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So lebt es sich auf der Wildhornhütte

 

Knochenjob Hüttenwart: Marco Canova (47) und Regula Bischof (45) führen seit diesem Jahr die Wildhornhütte des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) im Berner Oberland. Wie hat das Paar aus Langenthal den Einstieg in seine erste Skitouren-Saison gemeistert? Was hat die beiden zum beruflichen und privaten Tapetenwechsel bewogen? Und welche Arbeiten fallen täglich an in einer Hütte, die weder über fliessend Wasser noch über normale Toiletten verfügt? Antworten auf diese und weitere Fragen habe ich selbst während eines knapp dreiwöchigen Hüttenhilfe-Praktikums in luftigen Höhen zusammengetragen. Hier mein Erlebnisbericht in drei Teilen.

 

Erster Teil

Teil 1 meines Erlebnisberichts ist im «UE» vom 30. April 2024 erschienen. Die weiteren Teile liest du, indem du nach unten scrollst.

 

März 2024. Ein Samstagabend auf 2303 Meter über Meer. Draussen tobt ein Föhnsturm der gröberen Sorte – so heftig, dass der Wind durch unsichtbare Ritzen pfeift und das Gebälk regelmässig ächzende Geräusche von sich gibt. Die Wildhornhütte muss in diesen Stunden beileibe einiges aushalten. Aber so ist es halt, hier oben am nördlichen Alpenkamm, irgendwo auf halber Strecke zwischen der Lenk im Simmental und Crans-Montana im Wallis – garstigste Bedingungen, wie sie nur im Hochgebirge vorkommen können.

Als Flachlandbewohner sind mir solche Wetterkapriolen natürlich alles andere als geheuer. Etwas unbeholfen stehe ich deshalb in der Hüttenküche umher – mir meinen sorgenvollen Blick möglichst nicht anmerken lassend. Hüttenwart Marco scheint der Sturm indes nicht gross zu kümmern. Selbstbewusst greift er mit der rechten Hand zur Schaufel neben dem Kochherd, während er mit der linken den Griff der schmalen Fenstertür betätigt, die von der Küche hinaus auf eine kleine Terrasse führt.

Durch den Türspalt peitschen uns augenblicklich fieseste Böen und Eiskristalle entgegen. Schneetreiben in der warmen Küche – von einer Sekunde auf die andere. «Ach, was solls», zuckt Marco mit den Schultern, während er, das Gesicht bereits triefend vor Nässe, Schaufel um Schaufel den Schnee von draussen nach drinnen holt und die weisse Pracht mit schwungvollen Handbewegungen in einen übergrossen Topf versenkt, der auf dem Kochherd steht. «Von selbst trägt sich der Schnee leider nicht zum Schmelzen nach drinnen», gibt er mir lakonisch zu verstehen, «wir müssen jetzt unsere Wasservorräte auffüllen, Föhnsturm hin oder her.»

Kopfnickend signalisiere ich Zustimmung, meine entblössten und frierenden Arme vor dem Oberkörper verschränkend. Unglaublich, wie schnell aus einer wohlig-warmen Küche ein ungemütlicher Eisschrank werden kann! Während Marco munter weiterschaufelt, denke ich an meinen Pullover, den ich – solange ich als Hüttenhilfe hier oben bin – bestimmt das erste und letzte Mal in meinem Mansarden-Zimmer vergessen habe.

 

Platz für 80 Personen

Gerade ist Skitouren-Saison. Die Wildhornhütte ist in der Zeit zwischen Ende Februar und Ende April ein sehr beliebtes Ausflugs- und Übernachtungsziel für Skitourengänger und Schneeschuh-Wanderer. Von hier aus lassen sich diverse spannende Alpengipfel wie etwa das Niesehorn oder das Wildhorn besteigen.

Für den heutigen Samstagabend hatten sich ursprünglich 73 Gäste ins Reservierungssystem eingetragen. Dies bei knapp 80 verfügbaren Plätzen. Bei nicht ganz Vollbesetzung wäre an diesem Wochenende auf der Wildhornhütte also die Post abgegangen. Wäre. Denn die angemeldeten Gäste trugen sich, je schlechter die Wetterprognose fürs Wochenende wurde, desto zahlreicher, wieder aus dem System aus. Schade – aber was will man machen? Die Natur gibt hier oben in fast allen Belangen den Takt vor, nicht bloss beim Schneeschmelzen.

Doch nicht nur während der Skitouren-Saison steht die Wildhornhütte bei Berggängern hoch im Kurs. In den Sommer- und Herbstmonaten, von Mitte Juni bis Oktober, finden vor allem Wanderer und Kletterer den Weg in die Hütte. Nur knapp 800 bis 1100 Übernachtungen von insgesamt bis zu 4500 pro Saison entfallen auf die Skitouren-Saison. Die wärmere Jahreszeit ist für das Hüttenpaar aus Langenthal also die geschäftigere, längere und damit auch ertragreichere Saison. Mit 80 Übernachtungsplätzen gehört die Wildhornhütte übrigens zum oberen Mittelfeld der SAC-Hütten, was die Anzahl der Beherbergungsplätze angeht. Es gibt noch grössere Hütten in den Schweizer Bergen, aber nicht viele.

 

Endlich kommen Gäste!

Ein Wochenende später. Das Wetter: diesmal gut. Nicht perfekt für Skitouren, aber immerhin. Freude herrscht beim Hüttenpersonal. Endlich kommen Gäste! 70 Personen sind gemeldet fürs Abendessen und für die Übernachtung von Samstag auf Sonntag. Die Woche über war’s eher ruhig auf der Hütte. Pro Tag und Nacht vielleicht zehn bis zwanzig Gäste. Dazwischen sogar ein verschneiter Mittwoch ohne jegliche Beherbergung. Keine Menschenseele wollte kommen. Gähnende Leere und Stille auf den Zimmern und in der Gaststube.

Jetzt jedoch ist die Ruhe einer lautstarken Betriebsamkeit gewichen. Punkt 18.30 Uhr haben sich an diesem Samstagabend alle 70 Gäste an den Tischen in der Gaststube eingefunden. Znacht um halb sieben. Dieser Programmpunkt wird penibel eingehalten, Abend für Abend.

Während ich mit Essen gefüllte, dampfende Schüsseln an die Tische trage, ernte ich aus allen Richtungen erwartungsvolle Blicke. Jeder Gast möchte vor dem andern wissen, was es heute auf den Teller gibt.

Hungrige Berggänger legen in etwa den gleichen zügellosen Appetit an den Tag wie Rekruten nach dem Zurücklegen ihres ersten 10-Kilometer-Marschs – so dünkt’s mich jedenfalls. Kaum stehen die Schüsseln auf dem Tisch, wird geschöpft und ordentlich reingehauen. Suppe, Salat, Hauptgang, Dessert. Eine Speiseabfolge, die hier oben auf 2303 Meter über Meer in etwa eine Dreiviertelstunde in Anspruch nimmt – wenn überhaupt. Essen im Schnellzugtempo.

Immerhin scheint es den Leuten zu schmecken, denke ich mir. Ansonsten würde die Gästeschar wohl kaum alles ratzeputz weghauen. Das stundenlange Schnippeln, Zubereiten, Kochen und Abschmecken am Morgen und Nachmittag hat sich also gelohnt. Gut auch, dass auf diese Weise kaum Essenreste zurückgelassen werden. Gefühlte 99,9 Prozent der Teller kehren leergefegt in die Küche zurück. Food Waste ist hier oben kein Thema. Sollte überhaupt etwas in den Pfannen und Töpfen zurückbleiben, so freut sich das Hüttenpersonal anderntags über eine aufgewärmte, leckere Mittagsmahlzeit.

 

Fortsetzung folgt ...

 


Zweiter Teil

Teil 2 meines Erlebnisberichts ist im «UE» vom 14. Mai 2024 erschienen. Den dritten und letzten Teil der Geschichte liest du weiter unten.

 

Es gibt tausend Sachen zu tun

Fürs Kochen, Bewirten und Umsorgen der Gäste ist im Moment vor allem Marco zuständig. Seine Partnerin Regula kümmert sich in diesen Tagen schwergewichtig ums Schneeschippen und Eispickeln rund ums Haus, ums Backen von Kuchen und Broten sowie um die vielen administrativen Arbeiten und Prozesse, die der Job als Hüttenwart beziehungsweise Hüttenwartin auch noch mit sich bringt.

Dies jedenfalls ist meine oberflächliche Wahrnehmung nach wenigen Tagen als Hüttenhilfe. Selbstverständlich gibt es für die beiden noch tausend andere Sachen zu tun. Arbeiten, die Aussenstehende auf den ersten Blick gar nicht wahrnehmen. Etwa die akribische und haushälterische Bewirtschaftung der Vorräte, das sorgfältige Nachbestellen von Lebensmitteln bei lokalen Händlern im Tal, das Einkaufen beim Grossisten zuhause in Langenthal, die Organisation des Helikopterfluges ab der Iffigenalp (ganz recht – alles, was auf der Hütte gebraucht wird, muss in letzter Konsequenz mit dem Heli hier hochtransportiert werden) oder auch das regelmässige Holzspalten.

Es sind unzählige Tätigkeiten, die nebst dem Täglichen und Offensichtlichen – Putzen, Waschen, Kochen, Backen, Schneeschmelzen, Bewirten und so weiter – durch das Hüttenwarte-Paar erledigt werden müssen. Als Hüttenhilfe packe ich vor allem beim Täglichen und Offensichtlichen mit an. Meine Aufgaben sind überschaubar und repetitiv. Gearbeitet wird vor allem mit den Händen. Und das von früh bis spät. Ich habe das Glück, dass ich jeweils erst gegen 7 Uhr zum Frühstücks- und Abwaschdienst erscheinen muss. Je nach Gästeaufkommen liegt dann tagsüber keine grosse Pause mehr drin, höchstens eine Zimmerstunde am frühen Nachmittag.

Das Reinigen und Instandhalten der Hütte, das Backen von Kuchen und Broten sowie das Vorbereiten von Zutaten für das Abendessen nehmen einen Grossteil des Vormittags in Anspruch. Am Nachmittag heisst es dann vor allem: Gäste bewirten, À-la-carte-Mittagessen wie Käseschnitten und Tagessuppen zubereiten, mithelfen beim Fertigkochen des Abendessens – und schliesslich: der Abendservice, gefolgt vom Abwasch und dem Einkassieren der Konsumationen und Übernachtungen.

Um 22 Uhr ist für die Gäste Nachtruhe. Ab dann wird’s jeweils auch für mich deutlich ruhiger. Spätestens gegen 23 Uhr komme ich normalerweise ins Bett. Meine Ruhezeiten fallen mit sieben bis acht Schlafstunden sehr gnädig aus – Marco und Regula sind nach einer kurzen Nacht oft bereits um 5.30 Uhr oder noch viel früher wieder auf den Beinen. Berggäste sind bekanntlich Frühaufsteher und wollen rechtzeitig zum Frühstück erscheinen. Im Winter, bei späterem Tagesanbruch, sind die Erwartungen der Gäste diesbezüglich etwas weniger extrem als im Sommer.

 

Wer macht sowas freiwillig?

Zwischenfazit: Harte körperliche Arbeit und lange Präsenzzeiten in rauer Umgebung – Hüttenwart beziehungsweise Hüttenwartin ist ein Knochenjob. Es ist ein Job, bei dem auch nicht unbedingt das grosse Geld winkt. Binsenwahrheiten. Man hat inzwischen eine Vorstellung davon – SRF-Hüttengeschichten sei Dank.

So stellt sich schon die Frage, weshalb jemand auf die Idee kommt, diesen Job freiwillig auszuüben – so wie Marco und Regula. Die anstrengende Arbeit für vergleichsweise wenig Lohn ist die eine Seite. Die andere ist der Verzicht, der mit dem Leben als Hüttenwartin beziehungsweise Hüttenwart einhergeht. Gemeint ist nicht der materielle, sondern vielmehr der Verzicht auf Familie, Freunde und auf das gewohnte soziale Umfeld. Zwar haben Marco und Regula ihren Wohnsitz nach wie vor in Langenthal; sie fühlen sich dort zuhause und sind in ein soziales Gefüge eingebettet. Während der Sommer- und Wintersaison lassen sich die Stippvisiten in der Heimat und die sozialen Kontakte mit Bekannten jedoch mehr oder weniger an einer Hand abzählen.

Das Paar ist über weite Strecken des Jahres sowohl physisch als auch mental sehr stark an die Wildhornhütte gebunden, teils wochen- und monatelang. Der Lebensmittelpunkt der beiden hat sich bereits merklich vom Oberaargau ins Berner Oberland verschoben, das schleckt keine Geiss weg.

«Das soziale Umfeld fehlt uns mit der Zeit natürlich schon, auch WhatsApp und Videotelefonie können das nicht wettmachen. Wir freuen uns darum immer sehr, wenn Freunde, Bekannte oder Familienmitglieder uns auf der Hütte besuchen kommen», äussert sich Regula in einer ruhigen Minute zu dem Thema, das aus nachvollziehbaren Gründen eher zu den Schattenseiten des Hüttenwarte-Daseins gehört.

 

Die Komfortzone verlassen

Doch nicht nur private Gründe hätten Marco und Regula letztlich von ihrer Entscheidung abhalten können. Beide waren in der Vergangenheit beruflich relativ stark eingebunden; hatten sichere, herausfordernde und durchaus gut entlöhnte Jobs. Regula war bis vor kurzem bei Emmi tätig, wo sie unter anderem eine verantwortungsvolle Schnittstelle zwischen Marketing und Produktion innehatte und später im Controlling tätig war.

Marco gründete zuletzt seine eigene GmbH, war zuvor aber in einer angestellten Position bei Switzerland Cheese Marketing tätig, wo er unter anderem Messeauftritte im In- und Ausland organisierte.

Ihre Karrieren und die guten Arbeitsstellen hielten die beiden aber auch nicht davon ab, den Tapetenwechsel schliesslich zu vollziehen. Welche Beweggründe stecken also dahinter?

«Ich war seit 2004 für Emmi tätig – irgendwann sehnte ich mich nach einer neuen beruflichen Herausforderung», weiss Regula zu berichten. Ähnlich bei Marco: Mit der Zeit war er etwas festgefahren im Job; es kam bei ihm der Wunsch auf, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. «Mir gefällt es sehr, Sachen zu organisieren, Gäste zu bewirten und mit Lebensmitteln zu arbeiten», sagt der 47-Jährige, der sich seines Erfahrungsschatzes und der Kompatibilität seiner beruflicher Vergangenheit mit den gegenwärtigen Herausforderungen seines Hüttenwart-Jobs durchaus bewusst ist. Denn gerade als Messeteilnehmer, Standorganisator und Vertreter von Schweizer Käsemarken konnte er sich in den letzten Jahren in gastronomischer Hinsicht ein sehr breites Wissen aneignen, das ihm nun zugutekommt. Hinzu kommt das Knowhow aus dem Hüttenwartkurs des Schweizer Alpen-Clubs (SAC), den Marco absolvieren musste.

Das nötige Rüstzeug, dessen ist man sich einig, holten sich die beiden jedoch während diverser Praktika auf SAC-Hütten in der ganzen Schweiz. «Dort, wo es wirklich darauf ankommt – direkt am Ort des Geschehens –, lernst du am besten, was es heisst, auf einer Hütte zu arbeiten und brenzlige Situationen zu meistern», gibt das Paar einhellig zu Protokoll.

 

Vorzüge und Freiheiten

Wer ihnen zuhört, merkt relativ schnell, worin die Vorzüge des Hüttenwart-Jobs liegen. Die Arbeit ist zwar sackanstrengend und man verzichtet im Alltag auf recht vieles; am Ende des Tages entschädigen die Tätigkeiten jedoch mit einem befriedigenden Gefühl und einem Schlaf, der sich meist deutlich schneller einstellt als im Flachland, wo die Gedanken abends im Bett nicht selten noch um allerlei Alltagsmist kreisen können.

Auf der Hütte gibt es keine besserwisserischen Vorgesetzten, die einem mühselige Arbeiten auftragen wollen oder die einem mit Deadlines drohen. Marco und Regula sind ihre eigenen Chefs. Sie müssen sich einzig an die Abmachungen mit der SAC-Sektion Moléson halten, der die Wildhornhütte gehört.

Die Arbeit mit den Händen ist unglaublich sinnstiftend – man sieht die Resultate sofort. Das Feedback der Gäste erfolgt postwendend; die Rückmeldungen sind, wenn man seine Sache gut macht, in der Regel ausgesprochen wertschätzend.

Und dann sind da noch die majestätischen Gipfel, die verschneiten Bergflanken und der weite Himmel. Ursprünglichste Natur, die einen erwartet, kaum setzt man einen Fuss vor die Tür. Eine Natur, die man als Hüttenhilfe oder auch als Hüttenwart auf einer Tour erkunden kann – am besten dann, wenn sich der Ansturm der Gäste für einmal etwas in Grenzen hält. Als leidenschaftliche Wintersportler und Wanderer wissen Marco und Regula diese unmittelbare Nähe zur Natur zu schätzen. Sie fühlen sich mit der Schweizer Bergwelt seit jeher verbunden. Auch ich selbst komme während meines dreiwöchigen Praktikums in den Genuss sowohl einer Ski- als auch einer Schneeschuhtour. Naturnahe Erfahrungen in totaler Abgeschiedenheit. Herrlich!

Darum – unter Berücksichtigung all dieser Umstände – kann festgehalten werden: Wer in solch einer Umgebung arbeiten und leben darf, erfährt mitunter grosse Freiheiten und ungeahnte Glücksmomente – und vergisst darob gerne die Anstrengungen und Entbehrungen des Alltags. Selbst Marco und Regula würden diesen Satz bereits so unterschreiben, trotz ihrer noch recht jungfräulichen Existenz als vollamtliches Hüttenwarte-Paar.

Die beiden wirken so, als würden sie sich in ihren neuen Rollen bereits ausgesprochen wohlfühlen und hätten sich in der Wildhornhütte gut eingelebt. Professionell und routiniert geht das Ganze vonstatten – so attestieren es auch viele Übernachtungsgäste beim Begleichen der Rechnung oder bei der Verabschiedung am nächsten Morgen. Schönes Lob für Marco und Regula. Das motiviert für die Zukunft.

 

Fortsetzung folgt ...

 


Dritter und letzter Teil

Teil 3 meines Erlebnisberichts ist im «UE» vom 22. Mai 2024 erschienen.

 

Das Heulen des Windes verzieht sich nach draussen, der Mini-Schneesturm in der Küche legt sich. Marco stellt die Schaufel neben den Herd. Die Fenstertür ist wieder zu. Gottseidank! Meine Schockstarre von vorhin ist überstanden.

Sobald der Schnee, den Marco eben in den Kochtopf gehievt hat, zu Wasser geschmolzen ist, muss dieses mit einem Schlauch über ein Pumpsystem nach unten in den Hüttenkeller geleitet werden, wo das Wasser in mehreren Zisternen und Fässern für den laufenden Gebrauch gesammelt wird. Ob fürs Abwaschen, Zähneputzen oder Kochen – alles, wofür Wasser gebraucht wird, bedingt hier oben im Winter vorgängiges Schneeschmelzen. Viel Handarbeit, Planung und Geduld sind in diesem Zusammenhang gefragt. Fliessend Wasser gibt es auf der Wildhornhütte nicht, auch im Sommer nicht. In der wärmeren Jahreszeit ist die Situation höchstens insofern ein bisschen einfacher, als das Wasser aus einem Reservoir oberhalb der Hütte bezogen werden kann. Dieses wird im Sommer mit Gletscher- oder Regenwasser gespeist.

Ohne fliessend Wasser gibt es logischerweise auch keine normalen Toiletten. Das stille Örtchen auf der Wildhornhütte ist eine sogenannte Trocken-WC-Anlage mit Wurmkompostierung. Will heissen: Die Exkremente werden hier auf natürliche Weise abgebaut. Davon kriegt der Gast nichts mit, auch nicht durch etwaige Gerüche. Denn: Solange man nach dem Toilettengang den WC-Deckel schliesst, funktioniert auch die Unterdrucklüftung sehr zuverlässig.

Die WCs sehen indes ganz normal aus – mit dem Unterschied, dass es keine Spülung gibt. Die Hinterlassenschaft wird nach dem WC-Gang über ein Förderbändchen, das per Fusspedal betätigt wird, nach unten weggeführt. Ein Vorgang, der am Anfang komisch anmutet, an den man sich jedoch sehr schnell gewöhnt.

 

Mässigung beim Stromverbrauch

Schliesslich wäre da noch die Situation mit dem Strom. Auch keine einfache Angelegenheit. Eine Stromleitung vom Tal hierher gibt es nicht. Alles, was an Strom benötigt wird, stammt aus Energie, die über die hauseigene Fotovoltaikanlage produziert wird. Solarpanels hats auf dem Dach und teils sogar an den Hausfassaden – damit über die Batterien stets genügend «Saft» zur Verfügung steht. Für Notfälle gibt es im Keller noch einen Dieselgenerator, doch diesen mussten Marco und Regula bislang nur vereinzelt und nur für relativ kurze Zeit anwerfen.

Die Solarstromproduktion funktioniert sehr zuverlässig. So kann man es sich hier oben sogar leisten, diverse technische Geräte wie etwa einen Tiefkühler, drei Kühlschränke, eine Abwaschmaschine, eine Waschmaschine und einen Boiler für Heisswasser zu betreiben. Ein bisschen Luxus inmitten der Einfachheit.

Während meines Aufenthalts passiert es allerdings mehrmals, dass, sobald mehrere elektrische Geräte gleichzeitig miteinander in Betrieb genommen werden, die Stromversorgung zusammenbricht. Sorgfalt ist also auch in dieser Hinsicht geboten. Mässigung beim Stromverbrauch und ein überlegter Geräteeinsatz werden Neuankömmlingen wie mir gleich von Anfang an eingetrichtert. Ebenso der richtige Umgang mit dem Kochherd, dem Herzstück der Hüttenküche. Das Anzünden und sanfte Regulieren der Gasflamme will gelernt sein!

Zu Beginn meines Hüttenpraktikums verursache ich gleich zwei kleinere Kochherd-Fiaskos, weil ich die Hitze zu stark aufdrehe. Fiasko Nummer eins: Milch für Cappuccinos – Pfanne kocht über – stinkender Schaum auf dem Herd! Fiasko Nummer zwei: Ratatouille fürs Abendessen – wildes Blubbern und hässliche Krustenbildung – Gemüse klebt jetzt am Topfboden! Shit happens ...

 

Nur gemeinsam sind wir stark!

Mindestens eine Hilfskraft – bei starker Auslastung besser zwei Angestellte – sind nebst dem Hüttenwarte-Paar nötig, um einen reibungslosen Betrieb der Wildhornhütte sicherzustellen.

Man kann es eindeutig sehr gut und sogar ausgelassen haben mit den Arbeitskolleginnen und -kollegen hier oben. Dafür muss man aber definitiv eine Prise aufmerksamer, hilfsbereiter und toleranter sein als drunten im Tal. Auf der Hütte sitzt und steht man gefühlt 24/7 um die anderen herum. Zum Wohle aller Beteiligten lohnt es sich, die eigenen Bedürfnisse etwas zurückzunehmen und in erster Linie fürs Team und vor allem für die Gäste zu denken. Nur gemeinsam sind wir stark! Eine abgegriffene Floskel, die im Hüttenalltag nach wie vor absolute Gültigkeit hat.

Ich durfte meinen Guggenkamerad Marco und seine Partnerin Regula in der Startphase ihres Hütten-Abenteuers während knapp drei Wochen begleiten und ihnen, so gut ich es als Person, deren Stärken nicht unbedingt im handwerklichen Bereich liegen, eben konnte, unter die Arme greifen. Müsste ich meine Erfahrungen in einem Satz zusammenfassen, würde ich sagen: Es war saumässig anstrengend – aber auch saumässig lustig und bereichernd.

 

Ende.

 


Infos und Kontakt Wildhornhütte


Die Geschichte der Wildhornhütte

1843 wird das Wildhorn zum ersten Mal bestiegen. 1878 baut die SAC-Sektion Wildhorn die erste Hütte – ein einfacher Bretterverschlag, der für sechs bis acht Personen Platz bietet. Zwanzig Jahre später, 1898, wird am Standort der jetzigen Hütte eine grössere Holzhütte erstellt. Sie verfügt über 24 Plätze. Im darauffolgenden Jahr übernimmt die Freiburger Sektion Moléson die Hütte. Um 1920 wir die Hütte auf 45 Übernachtungsmöglichkeiten vergrössert. 1929 trifft ein Brandereignis die Wildhornhütte – sie wird anschliessend wieder aufgebaut, mit neu 60 Plätzen. 1968 erfolgt die Erweiterung auf 110 Plätze (!). Rund dreissig Jahre später sind grössere Eingriffe und Renovationen fällig: 1999 werden die Schlafeinheiten verkleinert, sie bieten nun noch 96 Übernachtenden Platz, das Treppenhaus wird den feuerpolizeilichen Vorschriften angepasst, die Gaststube wird vergrössert und Spültröge werden eingebaut. Eine 600 Meter lange Wasserleitung führt das Wasser nun vom Gletscher in eine Reservoir oberhalb der Hütte. Eine Trocken-WC-Anlage wird eingebaut. 2014 erfolgt schliesslich der letzte umfassendere Umbau. Die Wildhornhütte wird vergrössert, ausserdem wird eine neue Fotovoltaikanlage installiert. 2023 wird die Fotovoltaikanlage vergrössert.


SAC-Hütten und -Sektionen

Am 19. April 1863 gründeten 35 Herren aus verschiedenen Schweizer Kantonen im Bahnhofbuffet Olten den Schweizer Alpen-Club (SAC). Dieser wurde in verschiedene Sektionen unterteilt. Von ursprünglich sieben Sektionen im Jahre 1863 mit insgesamt 358 Mitgliedern wuchs der Club auf heute 110 Sektionen mit über 181 000 Mitgliedern. Laut Website des Alpen-Clubs gibt es aktuell 153 SAC-Hütten, in denen gleichzeitig mehr als 9000 Personen Platz finden. Die Hüttentypen sind so vielfältig wie die Bergsport-Möglichkeiten – vom Not-Biwak auf über 4000 m ü. M. über die schutzbietende Selbstversorgerhütte bis zur komfortablen Bergwanderhütte mit fein zubereitetem Essen.


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